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SchauFenster: Entstehungsgeschichte und Konzept

Mein Name ist Brigitta Schmidt-Lauber. Ich bin Alltagskulturwissenschaftlerin und arbeite am Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien. Nachfolgend stelle ich den Hintergrund eines kollaborativen Ausstellungs- und Sammlungsprojektes im Weinviertel vor, welches sich hinter dem Namen SchauFenster verbirgt.

Seit 2015 bin ich regelmäßig im Retzerland und diesem zunehmend verbunden. Nicht erst die COVID-Pandemie führte mir die Vorzüge eines Lebens am Land vor Augen; auch ohne diese Ausnahmesituation hatten mich die Menschen, die Landschaft und die regelmäßige Weingartenarbeit bereits für sich eingenommen. Seit 2020 haben mein Sohn Oskar und ich in der heutigen Waldstraße 24 in Oberretzbach einen Zweit- bzw. nunmehr Hauptwohnsitz, dessen Renovierung wir gerade (2024) fertigstellen. Damit begann alles.

Die Idee

Zum Einzug schenkten mir Nachbar:innen und Freund:innen alte Fotos zur Geschichte des Ortes und des Gebäudes. Viele zeigten das bis 1999 in unserem Haus befindliche Gemischtwarengeschäft, das zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts zunächst von der Familie Roth und später von der Familie Blei betrieben wurde und die Nachbarschaft mit allerlei Produkten des täglichen Bedarfs versorgte. Auf vielfältige Art und Weise begegneten und begegnen mir seither Erinnerungen und Geschichten, die an das Geschäft geknüpft sind. Sie verdeutlichen die frühere soziale und alltagspraktische Bedeutung des nicht mehr vorhandenen Unternehmens für den Ort bzw. seine Bewohnerinnen und Bewohner. Darüber wurde auch ein Stück Alltags- und Gesellschaftsgeschichte der vergangenen Jahrzehnte greifbar: Die Auflösung des lokalen ,G‘schäfts‘ ging mit der sukzessiven Verlagerung der alltäglichen Versorgung hin zu Supermärkten in Retz oder auf Zustelldienste einher, mit der sich auch die Möglichkeiten der Begegnung der Anwohnenden änderte. Die Waldstraße 24 hatte über das ansässige Gemischtwarengeschäft als sozialer Treffpunkt und Informationsbörse fungiert; nun ist es ein Wohnhaus.

In Gesprächen mit unterschiedlichen Menschen vor Ort sowie in meinem akademischen und privaten Umfeld entstand die Idee, das vormalige Fenster des Gemischtwarenladens, welches mit einer Spanplatte verhangen war, für die Straße zu öffnen und mit einer kleinen Ausstellungsfläche zwischen Fensterscheibe und der dahinterliegenden Holzwand wieder einen lokalen Kommunikationsraum zu schaffen: das SchauFenster.

Konzeptentwicklung und erste Ausstellungen

Johannes Heuer – ein Künstler aus der Mitterretzbacher Nachbarschaft – war sogleich von der Idee angetan. Er hat das SchauFenster mit der Ausstellung „Stellenbosch 2020“ eingeweiht, die das erste Jahr der Pandemie zitiert und im Dezember 2020 eröffnet wurde. Es war ihm ein Anliegen, das patinierte Erscheinungsbild des Fensters mit toten Fliegen, Staub und abbröckelnder Farbe weitgehend zu belassen und durch eine unaufdringliche Installation neugierig zu machen sowie Irritation zu erzeugen. Der anfängliche grüne Schriftzug des Namens Schaufenster über dem Fenster erfolgte ebenso auf Vorschlag von Johannes, den wir dann gemeinsam umsetzten.

Das SchauFenster sollte von Beginn an kein Treffpunkt für intellektuell-künstlerische Zweitwohnsitzer:innen sein, keine Kolonie zugezogener städtischer Milieus im ländlichen Raum verkörpern, sondern einen Ort des Austauschs der unterschiedlichen Menschen vor Ort, der Reflexion und der Abwechslung darstellen. Mit der zweiten Ausstellung „… mitten in der Waldstraße…“ im Juli 2021 erweiterte sich das Konzept in diesem Sinn zu einem Präsentations- und Dialograum für vielfältige Themen und Erinnerungen rund um Retzbach und die umliegende Region. Die Ausstellung zeigte eine Fotocollage mit historischen Aufnahmen der Straße aus verschiedenen Jahrzehnten sowie lebensgeschichtliche Erinnerungsmomente aus Fotogesprächen mit den benachbarten Familien Landsteiner und Glaser. Wir saßen beisammen und schauten gemeinsam alte Fotografien an. Währenddessen erläuterten die Ehepaare das Abgebildete oder ergänzten Geschichten von früher oder Beschreibungen damaliger Lebensumstände. Erich Landsteiner senior und ich haben daraus das Konzept der genannten Ausstellung entwickelt und es mit tatkräftiger Unterstützung weiterer Personen umgesetzt.

Mit der dritten Ausstellung „wie weit …“ Ende August 2021 konkretisierte sich der Fokus des SchauFensters. Seither verfolgen auch die künstlerischen Ausstellungen thematisch explizit die Verhältnisse vor Ort. Die in Wien und Mitterretzbach ansässige bildende Künstlerin Elisabeth Czihak eröffnete tiefe, atmosphärisch dichte Tag-/Nacht-Einblicke in die Geschichte ihres Hauses vor dem Umbau und weckte dadurch bei zahlreichen Betrachtenden Erinnerungen an eigene Umbauerfahrungen.

Daran schloss im Oktober 2021 der Künstler Matthias Klos mit einer Fotoausstellung unter dem Titel „Auf den Wegen sammelt sich die Zeit“ an. In der somit vierten Ausstellung im SchauFenster erkundete er aus persönlicher Perspektive das Beziehungsgeflecht aus der Landschaft im nördlichen Weinviertel, dem Verkehr sowie Infrastrukturen in der Region und kontextualisierte dies mit jeweiligen historischen Situationen, wodurch die Veränderungen des Raums deutlich wurden.

So hat das Konzept des SchauFensters seine heutige Kontur erhalten: Es bietet einen Ort, alltags- und lebensgeschichtliche Themen und ebenso künstlerische Reflexionen des ländlichen Raums zu präsentieren und zur Diskussion zu stellen. Viermal im Jahr sind wechselnde Ausstellungen zwischen Kunst und Alltagskultur vorgesehen.

Das SchauFenster: on- und offline

Entstanden in Zeiten fragiler Möglichkeiten physischer Begegnung, die die COVID-Pandemie bescherte, lag es nahe, die Arbeiten am SchauFenster nicht nur einem kleinen Publikum an Besuchenden vor Ort zu präsentieren, sondern zugleich digital zur Verfügung zu stellen. So sind die (Ausstellungs-)Projekte einerseits analog bzw. offline in Gestalt des physischen SchauFensters erfahrbar und bieten bei Vernissagen oder Spaziergängen Diskussionsstoff sowie Anlass zur Begegnung. Andererseits steht seit 2022 digital auch die zugehörige Website bereit, auf der die Ausstellungen einem breiteren, ortsunabhängigen Publikum präsentiert werden. Hier finden sich unter der Rubrik Kontexte auch weitere Informationen zu Transformationen des ländlichen Raums sowie zum nordwestlichen Weinviertel – beispielsweise wissenschaftliche Texte, Interviews oder Fotos.

Die Wiener Grafikerin Lena Appl hat sich zur Gestaltung der Website intensiv auf das Vorhaben eingelassen und einen grafischen Auftritt geschaffen, welcher der von Stefan Holzinger technisch realisierten Website zugrunde liegt. Auch das von ihr entwickelte Logo des SchauFensters trägt zur Wiedererkennbarkeit des Projektes bei. Es ziert mittlerweile auch den Holzbalken über dem Ausstellungsfenster in der Waldstraße 24 und findet sich auf Plakaten sowie den Einladungen zu Vernissagen. Damit ist die Einheitlichkeit von digitalem und analogem Auftritt des SchauFensters gewährt.

Wissenschaft

Gezeichnet ist das Projekt durch meine Perspektive als (kunstinteressierte) Alltagskulturwissenschaftlerin. Das bedeutet, es knüpft an eine beruflich begründete, habitualisierte Neugier für Lebenswelten und Lebensgeschichten unterschiedlicher Menschen an. Die Europäische Ethnologie untersucht (scheinbare) Selbstverständlichkeiten des Alltags in Geschichte und Gegenwart wie etwa Vorstellungen und Praktiken von Nachbarschaft, Geschlechterordnungen oder Zeitregime, befragt aber auch ökonomische Strukturen und die Veränderung von Arbeitswelten und Wirtschaftsweisen aus der Perspektive der handelnden Akteure. Am Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien (https://euroethnologie.univie.ac.at/), an dem ich seit 2009 als Universitätsprofessorin tätig bin, entstanden zum Beispiel Studien zu Alltagsleben in Groß- und Mittelstädten[1], zu Wohnformen und Stadtplanung, zu den Lebens- und Arbeitsverhältnissen ländlicher Frauen in der Textilindustrie am Beispiel der Unterwäschefirma Triumph International in Österreich (https://wirwarentriumph.at/) oder zu Protestkulturen in Österreich, für die wir auch eine Online-Ausstellung erarbeitet haben (wirprotestieren.at). Ich beschäftige mich wissenschaftlich auch mit der Geschichte und Gegenwart der alltäglichen Lebensgestaltung im ländlichen Raum, forschte und forsche zu Themen wie der Institution der „Sommerfrische“[2] oder zur Geschichte des Urlaubs nach 1945, zur Kulturhauptstadtwerdung Bad Ischl – Salzkammergut 2024 oder zur Praxis der (mehrfachen) Ortsbezüge von Menschen (Multilokalität, Mobilität). Besonders interessieren mich die aktuell zu beobachtenden Veränderungen des Alltagslebens in Stadt und Land sowie die darin erkennbaren Werttransformationen, die vielfältiger werdenden Lebensmodelle und politisch-sozialen Herausforderungen. In vielfältigen Zusammenhängen begegnen uns in alltagskulturwissenschaftlichen Forschungen gesellschaftliche Veränderungen wie etwa ein wachsendes kritisches gesellschaftliches Bewusstsein für Konsumgewohnheiten oder die Folgen des Klimawandels, die Entscheidungen und alltägliches Verhalten prägen. All dies zeigt eine gesellschaftliche Transformation des Alltagslebens auf der Suche nach dem „guten Leben“ an.

Eine entscheidende Rolle kommt dabei auch der Frage nach dem passenden Wohn- und Lebensort zu. In Wissenschaft und Gesellschaft ist diesbezüglich ein auffällig wachsendes Interesse am ländlichen Raum zu beobachten, dem wir Aufmerksamkeit schenken und darüber Dynamiken und Kennzeichen gesellschaftlicher Lebensformen und -modelle zu erkennen suchen. Diesem Bemühen ist auch das SchauFenster-Projekt zuzuordnen. Ländliche oder städtische Räume betrachte ich dabei relational und verknüpft, denn Raumkategorien lassen sich nur in ihrer Beziehung zueinander aufschlüsseln.

Die Europäische Ethnologie als Disziplin, die ich vertrete und die inzwischen häufig unter dem Namen „Empirische Kulturwissenschaft“ auftritt, erkundet frühere und gegenwärtige Alltagswelten auf Basis historischen Quellenmaterials sowie mittels ethnographischer Verfahren: Erkenntnisgewinnung erfolgt in diesem Fall über teilnehmende Beobachtung bzw. das Mit(er)leben sowie durch Gespräche und Interviews. Im Mittelpunkt des Interesses stehen Menschen, deren Leben, Ansichten und Umwelten es zu verstehen gilt. Tendenziell liefen Ethnograph:innen Gefahr, ,über‘ andere Menschen zu schreiben und damit Macht auszuüben. Seit geraumer Zeit sind demgegenüber neue Arbeits- und Darstellungsformen entwickelt worden, in denen die Forschungspartner:innen sichtbar werden und eingebunden sind.

 

Ziel

Mit diesem Hintergrund verfolgt das SchauFenster-Projekt das Ziel, ein kollaboratives neues Format für ethnographische Forschung und Repräsentation sowie künstlerische Impressionen zu finden, das auf Zusammenarbeit über Professionsgrenzen hinweg basiert und über das gemeinsame Thema „ländlicher Raum“ zum Austausch führt. Dabei werden Wissen und Bilder zu Themen des Landlebens generiert und geteilt, die Veränderungen der sozialen Verhältnisse und Bewohner:innengruppen, des Wirtschaftens und Überlebens am Land oder den Alltag an der österreichisch-tschechischen Grenze etc. pp. beleuchten. Im Fokus steht die Vielfalt der Menschen, Lebenssituationen und –konzepte vor Ort – seien es lokale Weinbauern und -bäuerinnen, Pensionist:innen, Pendler:innen, Zugereiste oder Zweitwohnsitzer:innen. Damit spiegelt das SchauFenster digital wie analog im Kleinen und Konkreten übergeordnete gesellschaftliche Strömungen und Entwicklungen wider: Lokalgeschichte wird in diesem Projekt in Bezug zur Gesellschaftsgeschichte gesetzt.

Adressat:innen sind Menschen der Region sowie allgemein Interessierte am Thema „Leben am Land“ und an Fragen gesellschaftlichen Wandels. Auch weitere Netzwerke sind eingebunden, speziell zur Kunst- und Museumsszene wie zum „Haus der Geschichte – Museum Niederösterreich“ oder zum „Volkskundemuseum Wien“. Inspiriert ist das Projekt zudem von kultur- und geschichtswissenschaftlichen Institutionen in Österreich wie dem „Institut für die Geschichte des ländlichen Raums“ in St. Pölten, dem „Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien“ sowie der Forscher:innengruppe „Figurationen der Ungleichheit“ oder dem Forschungsschwerpunkt „Wirtschaft und Gesellschaft aus historisch-kulturwissenschaftlicher Perspektive“ der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien.

All diesen Einrichtungen und Personen, den Nachbar:innen und Freund:innen, den Künstler:innen und Kolleg:innen, den Förder:innen und Kooperationspartner:innen, möchte ich herzlich für das Engagement, Mitdenken und Feedback zu diesem kollaborativen Vorhaben danken. Ich freue mich über Anregungen, Beiträge, Ausstellungsvorschläge oder Interesse an einer anderen Form der Beteiligung am SchauFenster.

 

[1] Eckert, Anna/Schmidt-Lauber, Brigitta/Wolfmayr, Georg: Aushandlungen städtischer Größe: Mittelstadt leben, erzählen, vermarkten (= Ethnographie des Alltags, 3). Wien 2020.

[2] Schmidt-Lauber, Brigitta (Hg.): Sommer_frische. Bilder. Orte. Praktiken (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Ethnologie der Universität Wien, 37). Wien 2014.