Zimmer frei! Urlaub im Retzer Land
2024
Ausstellungskonzept:
Gestaltung
Margot Fürtsch-Loos und Siegfried Loos (polar÷ architekturbüro) (Ausstellungsarchitektur)
Elisabeth Czihak (Grafikdesign)
Brigitta Schmidt-Lauber (Kuratierung)
Johanna Resel (Kuratierung)
Vorarbeiten zu dieser Ausstellung wurden in Kooperation mit dem Institut für Europäische Ethnologie an der Universität Wien (Studienprojekt „Zimmer frei! Urlaub in Österreich nach 1945“) und dem Museum Niederösterreich (Ausstellung „Zimmer frei! Urlaub auf dem Land“) durchgeführt.
Inhalt
Eva Krell (Aussagen, Ausstellungsobjekte)
Karola Landsteiner (Aussagen)
Reinhold Griebler (Aussagen)
Camilla Geißelbrecht (Recherche)
Stadtarchiv Retz (Ausstellungsobjekte, Recherche)
Statistik Austria (Recherche)
Umsetzung
Margot Fürtsch-Loos und Siegfried Loos (polar÷ architekturbüro)
Elisabeth Czihak
Norbert Dietler
Brigitta Schmidt-Lauber
„Zimmer frei! Urlaub im Retzer Land“ lautet der Titel einer kulturwissenschaftlichen Ausstellung im SchauFenster in Oberretzbach zum Tourismus im nordwestlichen Weinviertel (eröffnet am 13. Juli 2024). Sie entstand im Rahmen alltagskulturwissenschaftlicher Forschungen am Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien und schließt an ein einjähriges Studienprojekt zum Thema „Urlaub in Österreich nach 1945“ an, aus dem das inhaltliche Konzept der Ausstellung „Zimmer frei! Urlaub am Land“ im Museum Niederösterreich (Haus der Geschichte) hervorging. Die von Johanna Resel und Brigitta Schmidt-Lauber (beide Institut für Europäische Ethnologie, Universität Wien) kuratierte Ausstellung ergänzt laufende Ausstellungsreflexionen touristischer Fragestellungen in österreichischen Museen um eine Tiefenschau auf lokale Verhältnisse der Privatzimmervermietung und das Urlauben in Retz und benachbarten Gemeinden.
Die Region, an der österreichisch-tschechischen Grenze gelegen, erlebten viele Menschen lange Zeit als das „Ende der Welt“. Der „Eiserne Vorhang“ ließ das Nachbarland unbekannt werden. Erst nach der Grenzöffnung 1989 und dem EU-Beitritt Österreichs und Tschechiens zeigte die touristische Belebung, die seit den 1970er-Jahren zaghaft begonnen hatte, Erfolg. Mittlerweile hat sich der Landstrich zu einem attraktiven Reiseziel für Kurzurlaube, Fahrradtouren und Kultur- und Genussinteressierte entwickelt. Dabei handelt es sich um keine Hochburg des österreichischen Tourismus; vielmehr wird die Gegend als „ein Ort zum Erholen, Entdecken und Genießen“[i] abseits des Massentourismus beworben. Urlaub im Retzer Landbasiert maßgeblich auf Privatzimmervermietung und bringt freundschaftliche und familiäre Begegnungen mit den meist weiblichen Gastgeber:innen sowie Einblicke in die Weingartenarbeit und die Produktion des Weines mit sich. Den Gästen steht zudem ein breites kulinarisches und kulturelles Angebot von Freizeitaktivitäten zur Verfügung.
Für die Ausstellung haben wir uns auf die Suche nach der Entstehung und Spezifik des Urlaubmachens in der Region begeben. Wir führten Interviews mit ehemaligen oder aktuellen Privatzimmervermieterinnen sowie Verantwortlichen der Tourismusbranche, stellten Archivrecherchen an und bereiteten die Ergebnisse in Kooperation mit Margot Fürtsch-Loos und Siegfried Loos vom Architekturbüro „polar÷“ sowie der Grafikerin Elisabeth Czihak zu einer Ausstellung auf. Ergebnis der gemeinsamen Arbeit ist eine nach drei unterschiedlichen Perspektiven organisierte Erzählung der Geschichte des Urlaubens im Retzer Land: Neben den Tourismusstrategien kommen die Erfahrungen der Vermieterinnen und jene der Urlaubenden zur Sprache. Parallel zu den drei Themenbereichen der Ausstellung verläuft eine „Zeitleiste“, die in der Entwicklungsgeschichte des regionalen Tourismus Orientierung bietet. Sie markiert sowohl den An- und Abstieg der Nächtigungszahlen in Österreich, Niederösterreich und Retzbach beginnend 1948 als auch wichtige gesellschafts- und tourismuspolitische Ereignisse.
Tourismusstrategien im Retzer Land
Ein erster Ausstellungsbereich behandelt die „Tourismusstrategien im Retzer Land“. Hier wird die Vermarktung der Region als Urlaubsdestination sowie die Entstehungsgeschichte eines Tourismuskonzepts für das Retzer Land anhand touristischer Werbematerialien nachgezeichnet.
Eine erste Institutionalisierung der Tourismusförderung in der Region erfolgte 1973 durch die Gründung des „Vereins zur Förderung von Wirtschaft und Fremdenverkehr“ in Retz. Doch erst mit den 1990er-Jahren stiegen die Nächtigungszahlen, nachdem 1991 aus dem Zusammenschluss der Stadt Retz und mehrerer benachbarten Gemeinden mit Vereinen und Firmen die Dachorganisation „Retzer Land Regionalvermarktung“ entstand. Sie koordiniert seither touristische Belange, erstellt Werbematerialien und bildet Netzwerke für die Entwicklung regionaler Tourismusprojekte. Die Namensgebung geht auf einen ehemaligen Bürgermeister von Obermarkersdorf nahe Retz zurück, der sagte: „Da hängt ein Plakat ´Salzburger Land`, warum heißen wir nicht ´Retzer Land´? Und so ist der Name gekommen“, erinnert sich der langjährige Geschäftsführer der Regionalvermarktung, Reinhold Griebler. Ziel war es, mit Retz als „Speerspitze“ das „Retzer Land“ als „Perlenkette“ verschiedenster Attraktionen in unterschiedlichen Ortschaften und Gemeinden zu präsentieren, so Griebler. Auf Flyern, durch Veranstaltungen und Karten wirbt die Region vor allem mit der Möglichkeit zum Fahrradfahren oder Wandern, mit Ausflugszielen in Tschechien sowie dem Wein inklusive zahlreicher Erlebnis- und Genussangebote für sich. Über 500 Kilometer misst das Netz an ausgebauten Fahrradwegen, die bestens beschildert und über Radkarten sowie online zugänglich sind. Aus dem ehemaligen „Stopplicht Österreichs“, wie es Griebler nennt, entwickelte sich eine touristisch attraktive Kleinregion, in deren Vermarktung der Wein im Mittelpunkt steht.
Viele der touristischen Vorhaben gehen auf die Initiative Einzelner zurück, die ihre Pläne dank persönlicher Beziehungen erfolgreich umzusetzen verstanden. Die Eröffnung des Althofs Retz, die Restaurierung der Retzer Windmühle oder die Entstehung und Bespielung des Erlebniskellers in Retz sind Beispiele dafür, wie verschiedene Personen sich engagierten, um attraktive Ausflugsziele in der „Bannerstadt“ Retz zu schaffen. Laufend wird das Programmangebot erweitert. Speziell in Kooperation mit den Weinbäuer:innen der Region entstehen neue Vermarktungsideen, wie etwa die Möglichkeit, unter dem Titel „Rent a Rebstock“ mit professioneller Betreuung eigenen Wein zu keltern und die Arbeitsschritte vom Rebenschnitt über die Laubarbeit bis zur Weinlese und Abfüllung kennenzulernen. „Da sind wir ausverkauft“, erklärt Reinhold Griebler. Zum Erscheinungsbild der Region zählen auch die zunehmend ästhetisierte Architektur und ein ansprechender Auftritt der Weinbaubetriebe, die sich im Retzer Land wie auch in anderen Weinbauregionen Europas beobachten lassen und Ausdruck einer professionalisierten Vermarktung sind. Nacheinander modernisieren lokale Weinbäuer:innen ihre Verkostungsräume und schaffen mit extravaganter Architektur attraktive, ästhetisierte Erlebniskulissen für den Wein- und mitunter auch kulinarischen Genuss.
Privatzimmervermietung als Nebenerwerb
Der zweite Themenbereich der Ausstellung „Privatzimmervermietung als Nebenerwerb“ behandelt die Erfahrungen und Perspektiven der Privatzimmervermieter:innen. Meist sind es Frauen, die Unterkünfte anbieten und sich um das tägliche Geschäft kümmern. Für unsere Gesprächspartnerinnen erwies sich der Weg zur Vermietung privater Zimmer weniger als klar definierte Berufslaufbahn denn als oft aus pragmatischen Gründen naheliegende Erwerbsmöglichkeit. Seit der Wein in Flaschen abgefüllt wird, sind für kleinere Weinbaubetriebe der Region vielfältige Wege der Vermarktung und Bewerbung des eigenen Weins besonders wichtig geworden. Bis vor wenigen Jahrzehnten war es üblich, Fasswein oder gar nur Weintrauben zu verkaufen. Aber „nur die Weintrauben liefern, wie unsere Eltern, oder den Wein im Fass verkaufen, das bringt kein Geschäft mehr“, erinnert sich Eva Krell an die Überlegungen, den Betrieb nach der Hofübernahme umzustrukturieren. Da der Abhof-Verkauf eine wichtige Einkommensquelle bot und bietet, ist die Kundenbindung für das Geschäft zentral. Schilder an Häusern weisen bis heute – neben anderen Werbeformen wie Online-Auftritten, Veranstaltungen und Prospekten – auf die Möglichkeit hin, Flaschenweine zu erwerben.
Manche Betriebe schufen dazu auch Nächtigungsangebote. Der Kontakt zu Tourist:innen bringt nicht nur direkte Einnahmen, sondern auch Gelegenheit, den eigenen Wein zu bewerben und zu verkaufen. Familiäre Umstände, wie ungenutzte Zimmer durch ausziehende oder verstorbene Familienmitglieder, oder betriebliche Notwendigkeiten legten den Um- und Ausbau des Wohnbereichs und von Gebäudeteilen zu Privatzimmern nahe, zumal (möglicher) Wohnraum im ländlichen Raum und Lebenszusammenhang verfügbar war und ist. Für Frauen wie Eva Krell bot die Privatzimmervermietung zusätzlich die Möglichkeit, Gelderwerb und Kindererziehung in Einklang bringen zu können. „Ich habe dann mein erstes Kind bekommen und gesagt, ich gehe jetzt entweder wieder ganz arbeiten, dann muss irgendwer auf dieses Kind aufpassen, oder wir machen uns wirklich daheim selbstständig und schauen, dass wir den Weinbaubetrieb ausbauen. […] Und hinten ist ein alter Stall. Da haben wir gesagt, gut, dann nehmen wir den hinteren Trakt weg und machen da drei Gästezimmer daraus“, erzählt sie. Der Einsatz hat sich für Eva Krell gelohnt: „90 Prozent meiner Weinkunden sind ehemalige Gäste von uns oder schon wieder Nachbarn, Freunde oder Mutter, Vater, Kinder jetzt schon. Das hat sich dann so weitergeredet, weil einfach der Wein gepasst hat.“
Der Preis für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie im eigenen Betrieb ist für eine Frau auch am Land freilich hoch und bedeutet unermüdliche Arbeitsleistung. Wie oft in bäuerlichen Betrieben ist auch der Einsatz weiterer (zumeist weiblicher) Familienmitglieder notwendig. Stellvertretend für viele beschreibt Eva Krell die Organisation der anfallenden Arbeit: „Also ich habe eine Fixangestellte, halbtags mit 20 Stunden angemeldet […]. Die macht mir die Zimmer, die tut Zimmer putzen. Ich weiß nicht, wann ich das früher gemacht habe. Meine Schwiegermutter hat die Wäsche gemacht und mit meiner Mutter die Betten übergezogen. Meine Mutter hat die Betten zusammengeräumt und ich habe halt Frühstück gemacht. Musst‘ dir vorstellen, wir sind oft wirklich bis um eins in der Früh hinten gewesen, auch vorne hab ich die Weinverkostungen gemacht und um fünfe bin ich schon wieder aufgestanden, hab weggeräumt. Um zwei im Bett, drei Stunden geschlafen und um fünf Uhr aufgestanden und Frühstück gemacht für die Gäste. Ich weiß nicht, wie ich das gemacht habe.“ Und auch die frühere Vermieterin und Weinbäuerin Karola Landsteiner erinnert sich kopfschüttelnd an die damalige Dauerarbeitsbelastung durch die Weingartenarbeit, Zimmervermietung, Tierhaltung, Obst- und Gemüseproduktion und -verarbeitung: „Ja, freilich war´s viel Arbeit. Das kann man gar niemand sagen, was des für Arbeit ist.“ Die Privatzimmervermietung ist nur ein Bereich der vielfältigen Aufgaben und Einkommensformen vieler Weinbaubetriebe. Den Frauen und Männern stellt sich ein breiter Tätigkeitsbereich: Es galt und gilt, die Früchte und das Gemüse zu Aufstrichen, Marmeladen, Eingemachtem oder Speisen zu verarbeiten, hauseigene Kuchen zu backen, im Gemüsegarten anfallende Arbeiten zu erledigen und gegebenenfalls sogar Tiere zu versorgen oder Weinbestellungen auszuliefern. Vor allem aber der Weingarten fordert von Jänner bis Dezember Arbeitseinsatz.
Eine Trennung von Arbeits- und Freizeit ist in diesem Lebensmodell schwer möglich, und auch eine Abgrenzung zwischen Privat- und Gästebereich ist kaum umsetzbar. Eva Krell berichtet von den Beweggründen, einen eigenen Frühstücksraum für die Gäste einzurichten: Eine Grenze zu den Gästen „habe ich von vorneherein immer wieder versucht abzustecken. Es ist mir nicht immer gelungen. […] Ich habe früher Frühstück hier vorne gemacht. Wir haben den Raum hinten, den wir jetzt haben, noch nicht gehabt, weil ich in meiner Naivität auch geglaubt habe, das wird eh reichen. Das bissl [Frühstück] kann ich da machen. Und dann sind da die Leute bis elf noch gesessen und ich habe da drin schon Mittagessen kocht für die Arbeiter ja auch. Und dann hat mein Mann gesagt, ja so geht das nicht, und dann haben wir da den Raum gehabt. Den haben wir dann im Nachhinein als Frühstücksraum und Aufenthaltsraum gemacht. Das ist ganz super.“
Privatzimmervermietung ist eng an den Lebens- und Arbeitsalltag in Weinbaubetrieben gekoppelt. Zur arbeitsintensiven Zeit der Weinlese im Herbst empfing die heute pensionierte Oberretzbacherin Karola Landsteiner keine Gäste, wie überhaupt die Tourismussaison in der Region von April bis Oktober und wieder im Dezember läuft. In den Sommermonaten trank das Gastgeberehepaar dagegen öfter unter der Pergola eine Flasche Wein mit Gästen, manchen zeigten sie auf Ausflügen auch die Gegend. Eva Krell hatte Zeiten, „da habe ich jede Woche zwei Weinverkostungen daheim gehabt. […] Es war schon sehr anstrengend, aber es war auch sehr schön.“ Zu geselligen Runden nach Feierabend im Hof kommt es auch bei ihr regelmäßig. Das „Glaserl Wein“ am Abend ist ohnehin eine Selbstverständlichkeit in vielen Haushalten – gerne in Gesellschaft. Aus solchen Begegnungen entwickeln sich immer wieder auch langjährige Beziehungen und Freundschaften zu Stammgästen. Und auch unter den Gästen entstehen Bindungen: „Und es haben sich schon wahnsinnig viele Freundschaften bei uns entwickelt. […] Es ist total schön, wenn ich mir das denke. Echt herrlich“, berichtet Eva Krell.
So beschert das Arbeits- und Lebensmodell auch Bestätigung und Wertschätzung sowie vielfältige Entfaltungsmöglichkeiten. Gerne führt Eva Krell Gäste durch die Weingärten und erklärt ihnen den Weinbau, „damit die Leute ein bisschen ein Gefühl bekommen“. Sie danken es mit Lobliedern auf die Ruhe, die Landschaft und das gute Essen und Trinken. 75 Prozent der Übernachtungsgäste auf dem Winzerhof sind Radfahrer:innen, „die mit E-Bikes kommen oder früher mit normalen [Fahrrädern]. Die kommen [nach einer Tour] mit ihrem Radl heim und wollen einfach nur da sitzen mit einem Glaserl Wein auf´d Nacht. Die sagen: ´Und das ist so schön. Und es ist so ruhig. Und es sind so wenig Leute. Und das ist einfach sensationell.´ Und das sagen die mit so viel Liebe, da denk ich mir nur, wie schön. Die finden Ruhe hier.“
Die Begeisterung der Gäste für die Landschaft und den Wein erfahren Vermieter:innen vielfältig. Mit Hartmut Rosa gesprochen, der in seiner „Soziologie des guten Lebens“[ii] die intakte Beziehung zur Welt als Ausdruck stabiler Resonanzverhältnisse versteht und für eine Entschleunigung unseres Lebens plädiert, artikuliert die Weinbäuerin im Gespräch eine Resonanzerfahrung, wenn sie ihre Arbeit als sinnvoll und erfüllend beschreibt und erstrebenswerte Ziele erreichen kann. Weinbäuer:innen bewerben und verkaufen über Privatzimmervermietung somit nicht nur ein Produkt, sondern erfahren auch Bestätigung für ihre Lebensweise, die „schöne Landschaft“ und die sinnvolle körperliche Arbeit an Weinstöcken und Weinen. Der Wein steht im Zentrum ihres Alltagslebens und Handelns, er bestimmt die Vielfalt an Tätigkeiten und hat verschiedene symbolisch-kulturelle, wirtschaftliche, soziale und emotionale Bedeutungen.
Das Nebeneinander an Arbeitsbereichen und Einkommensquellen ist im landwirtschaftlichen Wirtschaften keine neue Erscheinung; ökonomischer Ideenreichtum war und ist in diesem Lebensmodell gefordert – zumal sich die (rechtlichen, maschinellen, klimatologischen, ökonomischen etc.) Bedingungen der existenzschaffenden Weinproduktion laufend ändern. Zugleich bieten die Lebensbedingungen und Möglichkeiten in ländlichen Betrieben auffällig Raum für stets neue kreative Lösungen zur Erweiterung oder Anpassung der Arbeiten.
Gastfreundschaften und Genussmomente
Der dritte Themenbereich der Ausstellung „Gastfreundschaften“ behandelt das Urlaubmachen in der Region und stellt anhand zweier Gästebücher der Familie Krell die Perspektive der Gäste ins Zentrum. Die Gästebücher erzählen von Urlaubsalltagen und Erlebnissen, von landschaftlichen Eindrücken im „Retzer Land“, den von den Gästen an die Unterkunft gestellten Ansprüchen und ihrer Beziehung zu den Privatzimmervermieter:innen.
Über einen längeren Zeitraum vorhandene Gästebücher wie die der Familie Krell (2000 bis 2023) lassen Rückschlüsse auf Veränderungen der Wahrnehmung, Erwartungen und Bedürfnisse der Gäste an das Quartier und die Tourismusregion Retzer Land zu. Daneben zeigen sie die Vielfalt der Beziehungen zwischen Gästen und Gastgeber:innen auf. Einträge beginnen mit dem Datum und enden mit dem Namen der Verfasser:innen beziehungsweise deren Unterschrift. Direkt hinter ihrer Signatur vermerken viele der Gäste, woher sie anreisten. Oft sind die Seiten kreativ gestaltet, Zeichnungen und Skizzen wechseln sich mit kurzen Dankesworten und längeren Reiseerzählungen ab.
Ein Großteil der von den Gästen des Winzerhofs erwähnten Urlaubsunternehmungen stehen in Zusammenhang mit dem Genussmittel Wein: Radfahren und Wandern in der vom Weinbau geprägten, sanft hügeligen Landschaft; Mitarbeit im Weingarten und gemütliches Zusammensein bei Weinverkostungen und -ausschank erwähnen besonders viele Gäste. Das gesellige Trinken im Innenhof – und damit „draußen“ – gehört angesichts der Witterungsverhältnisse zu den besonderen Genussmomenten. Eva Krell erklärt: „Diese schmalen Innenhöfe, die Weinviertler Hakenhöfe sind prädestiniert dafür, dass ich wirklich am Tag irgendwo im Schatten sitzen kann und am Abend ist es warm, weil sie die Wärme speichern. Und dadurch kann man auch ganz lang draußen sitzen.“ Doch auch Beschreibungen der Besuche von Sehenswürdigkeiten in der nahe gelegenen Stadt Retz, wie der Windmühle, dem Erlebniskeller, dem Hauptplatz oder Kirchen, unterstreichen die seitens Tourismuspolitik beworbenen und von den Gästen durchaus angenommenen touristischen Angebote der Region.
Häufig kommen auch Erlebnisse auf dem Weingut selbst zur Sprache, die den verbindlichen und direkten Kontakt zu den Gastgeber:innen unterstreichen und diese Form des Urlaubens kennzeichnen. Das Zertifikat „Urlaub auf dem Bauernhof“, welches das Weingut Krell trägt, erfordert verschiedene Angebote wie Qualitätsweine aus dem eigenen Betrieb und Veranstaltungen wie Verkostungen oder informative Besichtigungen des Weingartens, mitunter auch die Möglichkeit mitzuarbeiten. Die Europäische Ethnologin Silke Göttsch-Elten erklärt den Bauernhof als „idealen Ort“ für eine „sinnliche Erfahrung des Ländlichen“, die aktuell gesellschaftlich verstärkt gesucht wird.[iii] Im Tourismus ist inzwischen eine rege Vermarktung von Ländlichkeit zu beobachten. Eine besondere Rolle spielt dabei im Weinviertel auch die landschaftliche Ästhetik: Die spezifische Struktur und Anordnung der Weinbaubetriebe erzeugt eine zu unterschiedlichen Jahreszeiten von vielen als „wunderschön“ bezeichnete, kleinteilig strukturierte Landschaft, die Gäste anzieht.
Die Gästebücher verdeutlichen auch, wie wichtig die Gastfreundschaft der Familie und die Begegnungsmöglichkeiten für das Funktionieren ihres Geschäftsmodells sind. „Das Individuelle ist das Allerwichtigste“, sagt Eva Krell. Gerade mit dem oft in Gästebüchern erwähnten Frühstücksangebot erfährt sie viel positive Resonanz: Hauseigene Produkte wie drei bis vier Marmeladen, Backwaren und Aufstriche sind dabei ebenso eine Selbstverständlichkeit wie regionale Nahrungsmittel – vom Brot über Fleisch bis zum Obst – die auf den Tisch kommen: „Was wir haben gerade“, „Marmeladen und Aufstriche ist meins.“, schwärmt Eva Krell; da kann sie experimentieren und erfährt Anerkennung. Beinahe alle Gäste loben das Frühstück, bedanken sich in den Gästebüchern für die Gastfreundschaft und betonen sich wohlgefühlt zu haben, manche sprechen sogar von dem Weingut der Familie Krell als zweitem Zuhause.
Schluss: Vernetztes Wirtschaften rund um den Wein
Die Privatzimmervermietung ist ein gutes Beispiel für die ineinandergreifenden Aufgaben und Tätigkeitsfelder eines Weinbaubetriebs. Da der Tourismus engstens mit landwirtschaftlicher und Weinbauarbeit verknüpft ist, lässt sich dieser Arbeitsmodus als „vernetztes Wirtschaften“ fassen. Im Mittelpunkt zahlreicher Lebens- und Arbeitsbereiche im Retzer Land steht der Wein: Weingartenarbeit erfordert körperliche Arbeit rund ums Jahr; das erzeugte Produkt ist ein begehrtes Genussmittel, das in einigen gesellschaftlichen Milieus Ausdruck eines besonderen Lifestyles mit Distinktionsfunktion darstellt und auf viel Interesse stößt und für Gesprächsstoff sorgt. Damit kommt Wein eine weit über das Ökonomische hinausgehende Bedeutungsvielfalt zu.
Brigitta Schmidt-Lauber
[i] https://www.retzer-land.at/ (abgerufen am: 22.7.2024).
[ii] Rosa, Hartmut: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin 2018.
[iii] Göttsch-Elten, Silke: „Der Bauernhof ist der ideale Ort, um Menschen emotional zu berühren…“. Vermarktungsstrategien von Ländlichkeit in der Spätmoderne. In: Kieler Blätter zur Volkskunde 50 (2018), S. 5-16.
polar÷ architekturbüro
gegensätzlich bei wesenhafter zusammengehörigkeit
polar÷ projekte entstehen im spannungsfeld zwischen den
divergierenden arbeitsmethoden von margot fürtsch – loos und siegfried loos.
in diesem dialog erfährt jedes projekt eine reduktion auf sein charakteristikum.