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Matthias Klos - „Auf den Wegen sammelt sich die Zeit“

2021

Wege werden zum Verkehr, wenn sie eine gewisse Distanz und Notwendigkeit überschreiten. Im Dorf habe ich Wege. Ich gehe einkaufen, bringe meinen Grünschnitt weg, mache Besuche oder gehe zum Heurigen. Wenn mein Unterwegssein aber nichts mit dem Dorf und dem „vor Ort sein“ zu tun hat, wenn ich etwa zur Arbeit fahre, dann wird mein Weg zum Verkehr. Und Verkehr braucht Straßen, schnelle Straßen, für die vielen Ziele der unzähligen Anliegen, die rasch erfüllt sein wollen.

Bei Zellerndorf zweigt die Trasse der Pulkaubahn in Richtung Sigmundsherberg ab. Der Gleisstrang, der sich gut 20 Kilometer durch die Landschaft zwischen Äckern und den Feldern hindurchzieht, ist seit Jahren stillgelegt und von seinem Zulauf abgeschnitten. Nahe der Abzweigung ragt eine alte Signalanlage aus dem überwachsenen Bahndamm heraus. Noch immer in Betrieb zeigt das Signal Rot und verbietet die Einfahrt auf die Bahnlinie Wien-Znojmo. Ich folge dem toten Gleis ein Stück durch die Landschaft, die morschen Schwellen geben mir die Schrittlängen vor. Einen runden Kiesel im kantigen Schotter kicke ich mit der Schuhspitze und er springt zwischen den Schienen über das Gleisbett. Ohne Zulauf trocknen Verkehrswege aus. Wenn ihnen Ziel und Bedarf abhandenkommen und sie keine Anliegen mehr erfüllen können, versickern sie regelrecht in der Landschaft. Den Kiesel hebe ich auf und nehme ihn mit.

Die Weinviertler Schnellstraße wurde ausgebaut und der neue Abschnitt führt mich jetzt flott in weiten Bögen um Ortschaften herum, die ich früher durchfahren musste. Es ist noch nicht lange her, da reihten sich die Orte aneinander, bis ich an meinem Ziel war. Die Reihenfolge, ein halbes Dutzend Ortsnamen, konnte ich auswendig. Für das Fahrerlebnis auf dem neuen Teilstück der Schnellstraße legte ein Wettbewerb ein Corporate Design der Trasse fest. „Das Reisen“– so ein Wettbewerbsbeitrag – gewinnt über eine gestaltete „Optische Entschleunigung […] an Bildhaftigkeit und bleibt so in Erinnerung.“. Die alte Route mit der Abfolge der Ortschaften verblasst immer mehr. An die Orte erinnern mich jetzt große Schilder an den Abfahrten. Um an mein Ziel zu kommen, muss ich nur noch rechtzeitig abbiegen. Es ist eigentümlich, wie Straßen – und der Verkehr auf ihnen — ganze Gegenden aus der Landschaft herauslösen können und sie aus dem Erleben in die Erinnerung verfrachten. 

Inmitten des Verkehrs auf der Schnellstraße ziehe ich zügig durch die Landschaft im Corporate Design dahin. Der Kiesel vom Bahndamm liegt im Fußraum des Autos auf der Beifahrerseite. Beim Überholen eines LKWs mit der Aufschrift foodspeed neigt sich der Kiesel leicht zur Seite und beim Bremsen vor dem nächsten Laster, beladen mit einem Container dhl-express logistic, kullert er über seine runden Seiten nach vorn. Irgendwann hat die Schlepplast eines Gewässers oder das Geschiebe eines Gletschers diesen Kiesel mitgetragen und dabei rundgeschliffen. Wege formen über die Zeit das, was auf ihnen unterwegs ist. Egal ob es ein Kiesel im Sediment, die Fracht in einem Container oder man es selbst ist, am Steuer eines Autos.

Auf dem stillgelegten Gleiskörper zwischen Zellerndorf und Sigmundsherberg wuchern Büsche, Sträucher, hie und da ein Apfelbaum, Zwetschgen und auch Mirabellen. Vögel schwirren auf. Eidechsen huschen über die rostigen und warmen Schienen. Insekten brummen um meinen Kopf und landen auf mir. Brombeeren zerkratzen meine Beine und Hagebutten zupfen an meiner Kleidung herum. Der tote Gleisstrang ist ein schmales Refugium zwischen all den landwirtschaftlichen Nutzflächen. Ein ausgetrockneter Verkehrsweg, der seinen Nutzen aus Bedarf und Distanz verloren hat und dessen Ziel jetzt das Sammeln von Zeit ist. Gesammelte Zeit, die einen Weg zu einem Ort machte.

Matthias Klos

www.m-klos.com

Unter dem Titel „Auf den Wegen sammelt sich die Zeit“ erkundete Matthias Klos aus persönlicher Perspektive das Beziehungsgeflecht aus der Landschaft im nördlichen Weinviertel, dem Verkehr und den Infrastrukturen in der Region sowie dem Faktor Zeit.

Matthias Klos (geb. 1969) lebt und arbeitet in Wien und Niederösterreich. Ausbildung als Koch sowie Brauer und Mälzer. Studium an der Akademie der Bildenden Künste Nürnberg von 1993 bis 1999 Meisterschüler. Von 2002 bis September 2009 künstlerisch-wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Bildende Kunst und Kulturwissenschaften der Kunstuniversität Linz, Bereich Experimentelle Gestaltung. 2010 bis 2011 Gastautor bei springerin und beim Online-Magazin artnet.de.

Zahlreiche Ausstellungen und Projekte unter anderen in folgenden Institutionen: Lentos Kunstmuseum Linz; Friedrich Kiesler Stiftung, Wien; University Galleries UC Irvine (USA), KW INSTITUTE FOR CONTEMPORARY ART, Berlin; Neues Museum, Nürnberg; Salzburg Museum, Salzburg; Kunsthalle Krems.

Matthias Klos wurde 2013 mit dem Staatsstipendium für künstlerische Fotografie des Bundesministeriums für Kunst und Kultur ausgezeichnet, 2018 war er Stipendiat des Landes Schleswig Holstein und erhielt 2021 den on the road again-Preis der österreichischen Kulturforen für Berlin.

Seine Arbeiten finden sich in den Sammlungen des Bundes, des Wien Museums, der Stadt Linz und des Salzburg Museums sowie in privaten Sammlungen.