... mitten in der Waldstraße ...
2021
Ausstellungskonzept:
Kuratierung und Idee
Erich Landsteiner, sen.
Brigitta Schmidt-Lauber
Künstlerische und inhaltliche Gestaltung
Herbert Justnik
Matthias Klos
Maria Prchal
Brigitta Schmidt-Lauber
Fotos, Materialien und Fotointerviews
Karola und Erich Landsteiner
Maria und Josef Glase
Bildergalerie
Eine alltagshistorische Spurensuche in Oberretzbach. Der wissenschaftliche Entstehungskontext.
Sammlungen alter Fotografien, Postkarten und Zeitungsartikel in Privathaushalten bilden den Ausgangspunkt der Ausstellung „Mitten in der Waldstraße…“. Nachbar:innen unseres Hauses in der Waldstraße 24 (des heutigen SchauFensters), namentlich die Familien Landsteiner und Glaser, hatten diese zur Verfügung gestellt. Erich Landsteiner senior hatte die Idee, aus der Vielfalt an abgebildeten Situationen und Einblicken in die Geschichte des Dorfes jene Ansichten auszuwählen, die das Haus in der Waldstraße 24 sowie den Platz und die Häuser rundherum zeigen – dieser Fokus gab der Ausstellung auch ihren Namen. Entstanden ist daraus eine alltags- und lebensgeschichtliche Collage aus 18 Abbildungen, die verschiedene Aspekte des Dorflebens zu unterschiedlichen Zeiten beleuchten.
Zu den Themen und Inhalten, die auf den Abbildungen zu sehen sind, erfolgte eine kulturwissenschaftliche Recherche in Form von Interviews meinerseits mit Nachbar:innen, teilnehmenden Beobachtungen des Alltags vor Ort sowie informellen Gesprächen mit unterschiedlichen ansässigen Menschen und Wissenschaftler:innen zu den dargestellten Lebensverhältnissen. In Unterhaltungen über die gezeigten Fotografien des Ortslebens – sogenannten Fotogesprächen – erzählten mir die benachbarten Ehepaare Erich und Karola Landsteiner sowie Josef und Maria Glaser über ihr Arbeits- und Alltagsleben früher. Diese „ethnographische Forschung“ genannte Vorgehensweise erfolgte im vorliegenden Fall aus meiner Rolle als Nachbarin und Bekannte, wobei das gemeinsame Interesse an der geteilten Lebensrealität den Ton der Dialoge und Begegnungen angab. Die Gespräche und Beobachtungen habe ich in einem längeren Zeitraum von Juni 2020 bis März 2022 durchgeführt und mit Ergebnissen aus alltagskulturwissenschaftlichen Forschungen zu Transformationen gesellschaftlichen Lebens in städtischen und ländlichen Räumen unterfüttert.
Der nachfolgende Text beschreibt die für die Collage ausgewählten Aufnahmen auf Basis der Erkenntnisse aus den aufgezeichneten Erinnerungserzählungen sowie wissenschaftlicher Literatur zu gesellschaftlichen Veränderungen der letzten 100 Jahre. Die hier gewählte Darstellungsform weicht von herkömmlichen Nachweisverfahren in wissenschaftlichen Texten ab, insofern nicht jede einzelne Aussage mit einer genauen Quellenangabe versehen ist, sondern die Entstehungskontexte und Zeitzeug:innen einführend gebündelt benannt werden. Die Entscheidung hierzu liegt in der Zielsetzung des SchauFenster-Projektes als breiter gedachte Plattform für regional und gesellschaftshistorisch aufschlussreiche Informationen.
Die Ausstellung besteht einerseits aus der im Fenster ausgehängten Collage an historischen Fotografien und Dokumenten. Andererseits liegen davon abgesetzt auf dem Fensterbrett den nummerierten Fotos zugeordnete Zitate bei, die aus den transkribierten Interviews mit Karola (KL) und Erich Landsteiner (EL) sowie Maria (MG) und Josef Glaser (JG) ausgewählt wurden. Sie kommentieren das Abgebildete oder benennen persönliche Erinnerungen und Aspekte.
„MITTEN IN DER WALDSTRASSE…“ – EINE ERINNERUNGSHISTORISCHE VIGNETTE
Historische Momentaufnahmen und lebensgeschichtliche Erinnerungen geben anschaulich Einblick in die früheren Lebensverhältnisse im Dorf. Links oben auf der Collage ist eine Luftaufnahme der heutigen Waldstraße in Oberretzbach um 1960 (Foto 1) zu sehen.
Die Postkarte zeigt die für Dörfer in der Region typische Anordnung: Man blickt auf eine Straßenfront von dicht aneinander gereihten Wohnhäusern ohne Vorgarten und Abstand zum Nachbarhaus, die jeweils einen nicht einsehbaren Innenhof mit Wirtschaftsgebäuden sowie – oft direkt anschließend hinter dem Haus – Gärten für Anbau und Viehhaltung aufweisen. Diese Topographie prägt auch das heutige Erscheinungsbild des Dorfes im Weinviertel. Allerdings dienen die Grundstücke längst nicht mehr allein dem Einkommen und Überleben; sie werden inzwischen vielfältig, je nach Hobby der Besitzer:innen genutzt: mal als naturbelassener Garten für Artenschutz und -vielfalt, mal als Areal für Swimmingpool oder Spielplatz, mal für naturnahen Anbau von Gemüse und Obst für den Eigenbedarf. Die Landbevölkerung hat sich sozial verändert, es finden sich dort heute Menschen mit verschiedenen Lebensmodellen und Routinen, die dem Landleben und der „Naturnähe“ unterschiedliche Bedeutung (für sich) zuschreiben. Nicht mehr nur die landwirtschaftliche Nutzung des Bodens prägt den Lebensraum „Land“ und seine Bewohner:innen; längst zieht er auch weitere Milieus an und ist spürbar von der touristischen Vermarktung als Natur- und Ruheoase geprägt. Aktuell beobachten wir einen regelrechten Hype des Landlebens in Wissenschaft und Gesellschaft: „Land“ steht für oft romantisierte „Lebensqualitäten“ von Naturnähe, Entschleunigung und vermeintlicher Ursprünglichkeit, es verspricht leichten Zugang zu lokal – und von persönlich Bekannten – produzierten Produkten und steht tendenziell für eine nachhaltige Lebensweise, auch wenn die durch die Pendlerpauschale geförderte Multilokalität vieler Bewohner:innen diesem entgegen steht. Neben und mit dem Weinbau prägen zunehmend die Vorlieben und Ansprüche der aus Städten Zugezogenen und Zweitwohnsitzenden aus intellektuell-künstlerischen Milieus den Lebensraum und seine ästhetisch-atmosphärischen Angebote – in Form von Bauern- und Hofläden, Bauernmärkten und Genuss-Events. Nicht nur die Stadt beherbergt Heterogenität an Menschen und Leben, auch am Land haben sich die Lebensformen und Bewohner:innenschaft mithin pluralisiert.
Die meisten Lichtbildaufnahmen der Collage zoomen ins Dorf hinein, konkret ins dörfliche Geschehen und Wirtschaften rund um das Häuserensemble nebst der heutigen Waldstraße 24. Eine Straßenansicht vermittelt einen plastischen Eindruck der damaligen Lebensverhältnisse und Atmosphäre (Foto 2).
Im Gespräch über das Bild hob Maria Glaser vor allem den Baum hervor, der aus heutiger Sicht „so schön“ erscheint. Er wich den modernen Standards eines motorisierten Alltagslebens, in dem – vom Verkehr bestimmt – asphaltierte Straßen und Gehsteige zur Selbstverständlichkeit gehören. Statt Bäumen und einem Straßenbelag aus Erdmaterial ist das Ortsbild hier wie andernorts heute von versiegelten Flächen geprägt: Bordsteine markieren die Gehsteige, getrennt davon befindet sich die asphaltierte Fahrbahn für den motorisierten Verkehr, die räumlich dominiert. Hie und da sprießt aus dem Boden Unkraut, das fallweise säuberlich gejätet oder anderweitig (z.B. durch Abflammen) vernichtet wird, manchen aber auch Freude angesichts der Widerspenstigkeit der Natur bereitet. So begegnen wir in den Gärten der Häuser und des Dorfes heute verschiedenen Ästhetiken und Umgangsweisen mit „Natur“.
Wo heute der Gehsteig aufhört und die Fahrbahn beginnt, befand sich vormals ein Graben. Die Erinnerungen an Kinderspiele in diesem, an die sich Karola Landsteiner im Fotogespräch erinnert, sind derweil verblasst. Besonderen Spaß hatte das Spielen bereitet, wenn der Graben Wasser führte. Frühere Lebendigkeit ist mittlerweile einer zunehmenden Leere und einem weitgehend – v.a. wochentags und im Winter – einsamen Straßenbild gewichen. Gerade die ältere Bevölkerung beklagt die schwindenden sozialen Kontakte im Dorf, man träfe kaum jemanden mehr auf der Straße. Seinerzeit prägten verschiedene Formen landwirtschaftlicher Nutzung und geschlechterübergreifende (Dauer-)Arbeit das alltägliche Straßenbild des Dorfes. Dies zeigt das Foto vom „Einserhaus“ (damals ohne Vorgarten), wie es auch heute noch vor Ort genannt wird (Foto 3).
Die Namensgebung berichtet von einer Zeit, als es noch keine Straßennamen in Oberretzbach gab. Diese wurden erst 2004 eingeführt. Zuvor wurden die Häuser ihrem Erbauungszeitpunkt entsprechend nummeriert, so dass die Hausnummern bunt gewürfelt anzutreffen waren. Heute gehört das Einserhaus Viktor Mattes, vormals wechselte es öfter die Besitzenden. Das selbstverständliche „Wissen“ um die Geschichte der Besitzverhältnisse einzelner Häuser sowie die Familienbeziehungen ist Teil des regionalen Gedächtnisses der älteren Generation und Ergebnis (räumlich und sozial) überschaubarer Lebenswelten. Es ist zugleich Gegenstand einer gezielten Sinnsuche. So es ist auffällig, dass viele junge und zugereiste Hausbesitzer:innen sich auf Spurensuche zur Geschichte ihrer Häuser und der sozialen Netzwerke am Ort begeben. Das kann als Ausdruck der Identifikation und gezielten Verortung neuer Bewohner:innen am Land (engl. Belonging) verstanden werden.
Die Mühseligkeiten des Alltagslebens zu Beginn des 20. Jahrhunderts illustriert die Aufnahme des Gemeindebrunnens mit Kind (Foto 4): Ein Bub pumpt am „Gmoabrunn“ Wasser aus der Tiefe in einen Metalleimer, der anschließend ins Haus getragen werden musste.
Das war der damals übliche Weg der Wasserversorgung für die meisten Dorfbewohner:innen. Das Foto einer Schulklasse wiederum (Abbildung 5) vermittelt eine Idee der damaligen Umtriebigkeit, wo Kinder, Tiere und allerlei arbeitende Menschen das alltägliche Dorfleben prägten.
Bei ortsansässigen Betrachter:innen löste die Abbildung zudem Erinnerungen ans Aufwachsen auf dem Land aus: ein Leben in freier Natur mit Freunden, im Wald, außerhalb elterlicher Kontrolle, doch zu vereinbarten Zeiten und Aufgaben galt es zur Stelle zu sein.
Die folgenden Fotos zeichnen die Geschichte des Hauses in der heutigen Waldstraße 24 nach, wo sich nun das SchauFenster befindet. Richard Roth hat hier Anfang des 20. Jahrhunderts einen Gemischtwarenhandel betrieben (Abbildung 8).
Erinnerungsspuren existieren noch heute an die Familie Roth: Sie war nach dem Ersten Weltkrieg aus Znojmo zugereist und schuf sich zunächst mit dem Gasthaus an der heutigen Hauptstraße eine Existenzbasis, wie Erich Landsteiner senior berichtete. Ein Bild des Pferdekarrens mit dem Geschäftsinhaber Richard Roth und seiner Frau, um die sich weitere Personen positionieren, zeugt von den üblichen Transport- und Fortbewegungsformen dieser Zeit (Abbildung 6).
Das Ehepaar hatte zwei Söhne: Das Geschäft übernahm der jüngere Sohn Anton. Der ältere Sohn Richard (junior) dagegen ging nach Wien. Anton bewegte sich den Erinnerungserzählungen zufolge sehr viel lieber als mit dem Fuhrwerk motorisiert fort: Er sei leidenschaftlicher Motorradfahrer gewesen. Gerne hat er dabei auch Buben des Dorfes im provisorischen Holzkisten-Beiwagen mitgenommen, wenn er zur Abholung von Brot in die nahegelegene Stadt Retz fuhr, wie sich Josef Glaser mit Schmunzeln erinnert. Als er bei einem Motorradunfall verstarb, übernahm seine Witwe die Geschäftsführung. So wird das Haus und Geschäft für eine lange Periode bis heute mit Nennung ihres Namens als „bei der Roth“ beschrieben. Das Ehepaar blieb kinderlos.
Die Wohnverhältnisse in „42 Oberretzbach“, wie die Adresse vor der Straßennamensgebung lautete, waren um 1930 aus heutiger Sicht wenig komfortabel und doch ein vergleichsweise gehobener Standard: Das Grundstück verfügte immerhin über einen eigenen Hausbrunnen, womit die Familie Roth sich den regelmäßigen Weg zum Gemeindebrunnen sparen konnte. Stattdessen, wie in einem Zeitungsartikel von 2018 berichtet, wurde der Hofhund „Butzel“ getrimmt, auf Zuruf ins Laufrad zu springen und das Schöpfwerk in Gang zu setzen (Abbildung 7).
Dies gibt Einblicke in eine Zeit, als Nutztiere das Straßenbild des Dorfes prägten.
Mit den Lebensverhältnissen am Land änderten sich auch die Versorgungsstrukturen. Die in Retz ansässige Bäckerei Blei übernahm um 1970 das Gemischtwarengeschäft und versorgte die Anwohnenden über fast drei Jahrzehnte – bis 1999 – mit allerlei Dingen des täglichen Bedarfs. Darüber war es einigen wenigen Frauen aus der Nachbarschaft zudem möglich, in ein bezahltes Beschäftigungsverhältnis zu treten (Abbildung 9 und 11).
Noch heute erinnern sich Anwohnende beim Betreten des ehemaligen Geschäftslokals an Einkäufe: wie sie als Kinder am Verkaufstresen warteten, oder an die genaue Anordnung der zu erwerbenden Produktpalette – von Postkarten und Zeitungen über Frischwaren wie Milch, Fleisch, Käse oder Brot und Obst bis zu Nähzeug. Zahlreiche Besucher:innen unseres Hauses oder Menschen im Ort, denen ich unsere Anschrift nenne, erzählen ihre persönliche Erinnerungsgeschichte „beim Blei“ (und schon mit „der Roth“). Die schlussendliche Auflösung des Geschäftslokals im Oktober 1999 ruft immer noch allgemeines Bedauern hervor; bei Maria Glaser als ehemaliger Verkäuferin und unmittelbar Betroffenen löste das Thema minutiöse Erinnerungen an den Tag der überraschenden Kündigung, den kurzfristigen Ablauf der Geschäftsschließung und die persönliche Neuorientierung in beruflicher Hinsicht aus.
In den Bildern des Geschäfts (Abbildung 6, 8 und 11) sind derartige Phasen der Geschichte des früheren Gemischtwarenhandels in der Waldstraße 24 und persönliche Erinnerungen gebündelt: Sie zeigen das Geschäft Richard Roths zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts und das Aussehen des Greißlers zu Bleis Zeiten zwischen 1970 und 2000. Die Werbeplakate, Hausfassade(n) und Straßenbeschaffenheit vermitteln einen Eindruck vom Alltagsleben und den Selbstverständlichkeiten zum jeweiligen Zeitpunkt der Aufnahme. Das im Straßenbild markant herausstechende Geschäft deutet auch seine soziale Bedeutung für das Dorf an: Es war lange Zeit ein wichtiger Ort der Versorgung und des Austauschs. Dass heute dasselbe Fenster als SchauFenster dient, weckt immer wieder Erinnerungen an diesen Transformationsprozess, an frühere Zeiten und Veränderungen des Landlebens. So ist die Geschichte des Hauses ein konkretes Beispiel für allgemeine Veränderungen im Bereich des Handels, der das Ortsbild von Städten und Dörfern zeichnete. Sukzessive verlagerte sich die Versorgung mit Dingen des täglichen Bedarfs vom Einzelhandel im Nahraum in Form des Gemischtwarenhandels oder einer Greißlerei hin zum nächsten städtischen Zentrum (Retz) durch Supermärkte und Baumärkte etc., bis es schließlich zur Geschäftsauflösung im Dorf und Wandel der Nahversorgung durch Zustelldienste oder Supermarktketten kam. Dass heute eine Neuauflage eines lokal ansässigen Geschäftes in der Nachbarschaft in Gestalt des Bauernladens existiert, spiegelt einen Bedeutungswandel dieses Versorgungsortes. Angeboten wird eine beachtlich breite Produktpalette an vorwiegend regional, von umgehenden Bauern hergestellten und damit direkt vertriebenen Produkten oder Erzeugnissen sowie eine ausgesprochene Vielfalt an Backwaren und Kuchen, die Bäuerinnen der Umgebung frisch zubereiten und die sich großer Beliebtheit erfreuen. Der Bauernladen in der Hauptstraße hat den Gemischtwarenhandel der Waldstraße abgelöst bzw. ersetzt und an die pluralen Versorgungsstrukturen der Gegenwart angepasst: Er scheint sich etabliert zu haben und lokal angenommen zu werden als Möglichkeit der unkomplizierten Nahversorgung – in kürzester Zeit zu Fuß oder mit dem Fahrrad erreichbar – mit kleinen Dingen des täglichen Bedarfs (wie Milchprodukten, Gemüse, Backwaren) oder besonderen Leckereien zum Kaffee. Dass gleichzeitig in Stadt und Land kleine Geschäftseinheiten im Bauernshop-Stil mit biologischen, meist regionalen Produkten den gesellschaftlichen Lebensraum prägen, zeigt einen verwandten Trend an: Das wachsende Bewusstsein für ökologische Krisen und Folgen des Klimawandels sowie zunehmende Konsumkritik führen zu Änderungen im Konsumverhalten. Es bilden sich verschiedene lebensstil- und ideologisch orientierte Milieus verschiedenen Alters und Einkommens heraus, wie etwa das Besucher:innenspektrum des Retzer Wochen- oder Genussmarktes oder jenes städtischer Bio-Greißler, Bauernmärkte oder Nahrungsmittelkooperativen (FoodCoops) zeigen.
Eine weitere Sequenz an Fotografien gibt Einblick in die Lebensverhältnisse der Familie Landsteiner aus der Waldstraße 21, die die Ausstellung „Mitten in der Waldstraße…“ maßgeblich prägte (Abbildung 10, 12, 13, 14).
Gemeinsam mit mir kuratierte Nachbarsfreund Erich Landsteiner senior wie erwähnt die Ausstellung, indem er die Themenstellung entschied und das meiste Quellenmaterial bereitstellte. Eine Flugbildansicht zeigt die rechteckige Anlage des Hofes und der Nachbarsgrundstücke und verdeutlicht, wie räumlich eng Arbeiten und Wohnen verflochten waren (Abbildung 10).
Das Ehepaar Landsteiner betrieb auf 5 ha Land Weinbau in geerbten und zugekauften Weingärten. Rund ums Jahr beschaffte dieser allen Familienmitgliedern sowie helfenden Händen Arbeit, wie das Ehepaar und andere Weinbäuer:innen der Region in zahlreichen Erzählungen berichten. Doch zum Überleben reichte der Weinbau allein nicht. Dass Leben und Wirtschaften am Land vielfältige, ständige Arbeit mit sich brachte und unterschiedliche Einkommensquellen beinhaltete, deuten die Ansichten des hinteren Gartens mit Gemüse- und Obstanbauflächen an (Abbildung 12).
Zusätzlich hielt die Familie Tiere: jeweils zweierlei Pferde, Kühe und Kälber. Zudem hielten sie auch einige Schweine, die sie zu Fleischprodukten verarbeiteten. Sie dienten zum Eigenbedarf und Verkauf – wie auch die Erträge aus Getreide, Erdäpfeln und Rüben oder selbsthergestellten Erzeugnissen aus dem Obst- und Gemüsegarten. Ein eindrückliches Zeugnis legt in dieser Hinsicht die Aufnahme von Erich Landsteiner senior vor einem mannshohen Schweinskörper ab, der der Länge nach aufgeschnittenen vor ihm hängt – das Tier hat er selbstredend eigenhändig geschlachtet (Abbildung 13).
Zusätzlich gab es auch noch ein Gästezimmer bzw. einen eigenen Trakt zu mieten. Die Vermietung eines Fremdenzimmers an die Weinkundschaft oder andere Gäste ist nach wie vor durchaus üblich in der Region. Diese (geringe) Einkommensquelle verschaffte zusätzliche Arbeit, aber auch Austausch zu Menschen aus anderen Ortschaften, Ländern und Milieus. Daraus erwuchsen den Landsteiners teils freundschaftliche Kontakte zwischen Stadt und Land, die bis heute halten. Das Foto des im Umbau befindlichen Innenhofes der Familie Landsteiner markiert einen Wertewandel, der gesellschaftliches Leben allenthalben kennzeichnet (Abbildung 14).
Für die Betonierung der Hoffläche wurde keine Mühe gescheut, wie Karola und Erich Landsteiner berichten: An vier vollen Tagen arbeiteten Mann und Frau eigenhändig mit Hilfe von Erichs Bruder ganztägig und opferten das verlängerte Pfingstwochenende hartem körperlichen Einsatz. Die Versiegelung des Innenhofes war damals Ausdruck und Symbol eines modernen Lebensstandards, der Komfort und Effizienz versprach. Heute stehen versiegelte Flächen im Fokus der gesellschaftlichen Kritik und weichen anderen Idealen des Lebensraums in Stadt und Land.
Dieser Allgegenwärtigkeit von Arbeit stehen Aufnahmen aus der Waldstraße gegenüber, die festlich-verbindende Situationen des sozialen Dorflebens einfangen, wie die Glockenweihe, für deren Prozession sich Kinder wie Erwachsene in Festtagsgewand kleideten (Abbildung 15), oder die freiwillige Feuerwehr (Abbildung 16), die auf dem Land eine ganz besondere Rolle als Solidargemeinschaft spielt.
Der Raumplaner Axel Priebs formulierte bei einem Kolloquiums-Vortrag am Institut für Europäische Ethnologie pointiert, das Land beginne dort, wo es eine freiwillige Feuerwehr gibt. Die Mitglieder übernehmen persönlich Verantwortung und dokumentieren einen Modus des Gemeinwohls, der der privatwirtschaftlich oder staatlich institutionalisierten Versorgungsstruktur anderer sozialer Räume entgegensteht. Die Momentaufnahme der auf der Waldstraße traktorfahrenden „Gabi“ (wohl aus den 1970er- oder frühen 1980er-Jahren) zeigt ein im alltäglichen Straßenbild bis heute selbstverständliches Setting: auf der Straße verkehrende landwirtschaftliche Nutzfahrzeuge (Abbildung 17).
Die Erzählungen über die im Ort früher allseits bekannte, längst verstorbene Bäuerin beschreiben ihre Gewohnheiten und ihr Aussehen. Das verdeutlicht die dichten sozialen Verhältnisse und das im Blickfeld allgemeiner Beobachtung-Sein, also die komplexen Dimensionen und Dynamiken der dörflichen Nachbarschaft.
Einen Szenenwechsel bietet das Schneefoto mit Kindern (darunter die Landsteiner-Söhne Erich und Karl), die sich auf Skiern versuchen (Abbildung 18).
Es weckt Erinnerungen an lange nicht mehr erlebte Witterungsbedingungen, die im alltäglichen Diskurs um die Auswirkungen des Klimawandels oftmals als besorgniserregende Verlusterzählung zur Sprache kommen. Aber in noch weitere Ferne gerückt ist die Schilanglaufstrecke, die ehemals – vor der strikten Grenzziehung, die später das Weinviertel von Tschechien trennen sollte – von Retz nach Znojmo führte. An diese erinnert das Foto den heute 92-jährigen Erich Landsteiner senior, wobei die Existenz einer Loipe bei seiner Frau und mir Erstaunen auslöste.
Brigitta Schmidt-Lauber, März 2022